20. April 2018 Die
Neuenburger Straße ist eine der außergewöhnlichsten Straßen
Kreuzbergs", hatte Hans W. Korfmann für die Kreuzberger Chronik
vom März 2018 investigiert. "Schon ihr Verlauf ist auffällig."
Weil sie zur Lindenstraße hin als Sackgasse ende
und anders als die "meisten Straßen in der Gegend um den Görlitzer
Bahnhof und das Schlesische Tor" keinen "östlichen"
Namen trage. Nicht so aufgefallen war ihm, daß die alpin benannte
Sackgasse als solche erst 1971 infolge kriegsbedingter Neubebauung auffällig
wurde und mit zwei respektive drei Kilometern auffallend weit westlich
von Görlitzer Bahnhof und Schlesischem Tor verläuft. Wer
sich interessiert, findet leicht das wirklich Außergewöhnliche
an der Neuenburger: den Zustand als langweilige Wohnstraße, die fast
jede Spur ihrer industriellen Vergangenheit eingebüßt hat.
Als hätten nicht die richtungsweisenden Hochtechnologien der Gründerzeit
das Wirtschaftsleben der Straße nach 1870 geprägt: Elektrotechnik,
Telegrafie und Telefonie. Zur
Mitte der 1880er Jahre sitzen die drei führenden Telegraphen-Bauanstalten
des Reichs im künftigen Kreuzberg. Nicht vertreten in der Neuenburger
Straße ist nur das 1880 etablierte Unternehmen von Carl Lorenz;
seine Adresse lautet Oranienstraße 50. Siemens & Halske,
1847 in der Schöneberger Straße 19 entstanden, ist bereits
1852 in die Markgrafenstraße 94 gezogen. Als dort trotz Zukaufs
der Nachbaranwesen der Platz knapp wird, sortiert S & H
die Abteilungen neu. Vom Fabrikanten R. Herbig kauft man 1881 die Neuenburger
Straße 24, die jener erst im Jahr zuvor von den Neptun Continental-Wasserwerken
erworben hat, und siedelt dort seine Lichtsparte an. 1895 verkauft die
"Siemens & Co. Fbrk. f. Beleucht. Gegenst."
das Haus an Kaufmann Herbig zurück, bleibt aber bis zum Auszug 1899
Mieterin. In Schöneberg, Prinzessinnenstraße 23, expandiert seit ihrer Gründung 1879 unaufhörlich die Telegraphenbau-Anstalt und Telegraphendraht-Fabrik von Kaufmann Wilhelm Mix und Ingenieur Werner Genest. Man muß den Sitz in angemietete Räume in der Wassertorstraße 14 und 34 verlegen, aber lang reicht das nicht. 1884 erwirbt man das ausgedehnte Grundstück Neuenburger Straße 14a und baut eine neue Fabrik. Zu jener Zeit beschäftigt die umfirmierte "Telegraphenbau-Anstalt, Telephon- und Blitzableiterfabrik Mix & Genest" 120 Mitarbeiter und wächst weiter. Wilhelm
Mix scheidet 1886 aus; Werner Genest, er wohnt in der Yorckstraße 18,
verbreitert 1889 die Kapitalbasis. Nun gehört die Neuenburger Straße 14a,
wo 1887 rund 200 Menschen arbeiten, einer Aktiengesellschaft. Die Fabrik
ragt so tief in den Block, daß die Südflügel an die parallel
verlaufende Gitschiner Straße grenzen; die dortige Hausnummer ist 94a.
Mix & Genest platzt dennoch aus allen Nähten,
1891 geht in der Brandenburgstraße 6, der heutigen Lobeckstraße,
ein Zweigwerk in Betrieb, 1892 kommen Dependancen in der Neuenburger Straße 18
und zuletzt in der Gitschiner Straße 80 hinzu. Bis
das weltweit agierende Unternehmen ab 1894 sukzessive den Hauptsitz zugunsten
neuer Fabriken aufgibt (ab 1905 wird an der Gitschiner das neue Reichspatentamt
stehen), verwaltet Carl Erfurth die Neuenburger Straße 14a.
Das Adreßbuch führt den Fabrikbesitzer schon 1888 in der Wassertorstraße
mit Verweis auf Mix & Genest. Im selben Jahr erscheint sein Standardwerk
Haustelegraphie, Telephonie und Blitzableiter in Theorie und Praxis.
Unter "C. Erfurth & Sinell" firmieren 1890
in der Neuenburger Straße 7 eine Fabrik und ein Lager für
Maschinenbau und Elektrotechnik, Spezialität: Lichtinstallation.
Man ist zugleich Generalvertreter der "Dt. Elektricitätswerke
in Aachen" und wird im Mitgliederverzeichnis des "Verbandes
Deutscher Elektrotechniker" noch 1925 auftauchen: C. Erfurth,
Elektrotechnische Fabrik, Berlin SW 68, Neuenburger Straße 15.
Da heißen die Inhaber längst Krieger & Faudt
und das für noch weitere zwanzig Jahre. Daß zwei Branchenriesen weitere einschlägige Betriebe anziehen, liegt nahe. So gibt es etwa in Nr. 7 das Berliner Verkaufsbüro der "Wolfram-Lampen-A.G." sowie die "Continental Electro-Licht und Accumulatoren-Fabrik". Schon vor 1900 fertigt die "Bronce-, Kunstbronce-und Lampenfabrik F. H. Hornemann" in diesem Haus Leuchter, Kandelaber, Kaiserbüsten, Thermo- und Barometer sowie "Beleuchtungs-Gegenstände für elektrisches Licht in größter Auswahl". Ihre direkte Konkurrenz existiert weitaus länger von 1861 bis heute und zieht 1881 in die Neuenburger Straße 38, bevor sie am 1. April 1890 die Nr. 27 als Firmensitz kauft: "Brendel & Loewig, Berlin SW. Kunstgewerbliche Beleuchtungs-Körper nach eigenen u. gegebenen Entwürfen" so die Reklame 1910 gilt in den 1930er Jahren als Maß der Dinge in der Ausbildung zum Gürtler, also zum Metallbildner. Erst 1955 flüchtet sie nach Neukölln. Weil das, was die Bomben von der Neuenburger Straße stehen ließen, zum Flächenabriß bestimmt worden ist. |