22. Februar 2019 Jene
Zeilen an "meine liebe gute Frau" in der Tempelhofer Straße 51
datieren vom 10. Juli 1862: "Übrigens trag ich mich mit
einem großen Gedanken, angeregt durch Hesekiel, der ähnliches
beabsichtigt
nämlich mit dem Bau eines Hauses, in dem man nur selber wohnt. Man
kauft eine Bau-Stelle für 1000 rthl. und hat man eine solche
Stelle, so erhält man ohne Mühe 3000 rthl. zum Bau eines
Hauses, die dann zu erster Hypothek völlig sicher stehn. Hat man
dann auch 5000 rthl. zu verzinsen zu 4 und 5%, so wohnt man
immer noch nicht theurer als wenn man für 200 bis 250 rthl.
zu Miethe wohnt. Einzelne Ausgaben kommen zwar hinzu, aber die Annehmlichkeit
ist dafür sehr, sehr groß, der Werth des Grundstücks wächst
in der Ausdehnung der Stadt, so daß er sich verdoppeln kann. Sprich
mit Treutler darüber. Dein ganz geschäftlicher Th. F." Hat
Theodor Fontanes Kollege George Hesekiel sich ein Haus gebaut, riet Kommerzienrat
Treutler Emilie wegen Mangel an Eigenkapital vom "großen Gedanken"
ab? Was wir wissen, ist: Fontanes hausten in jenem Sommer mit drei Kindern
in einer gekündigten Wohnung vorm Halleschen Tor. Abertausende Berliner
zogen im Jahresrhythmus um; Familie Fontane allein kam wohl auf ein Dutzend
Adressen. Der drohende Verlust der Bleibe wegen Mieterhöhung oder
Spekulation war damals die bestimmende Alltagssorge einfacher Leute in
der Südlichen Friedrich- und der Tempelhofer Vorstadt, ebenso in
der Luisenstadt "dies- und jenseits des Kanals"
und ist es erneut im selben Gebiet, das seit fast hundert Jahren Kreuzberg
heißt. Heute
muß man nicht mal arm sein. Schon ein alter Mietvertrag genügt,
dem Hausbesitzer solche Existenzangst einzujagen, daß er einen alsbald
loswerden will. Eine Zeitlang läßt sich untauglichen Versuchen
Einhalt gebieten, doch für notorische Profitbremsen wird die Luft
dünner. Da sollte, wer als Altmieter ruhig schlafen möchte,
über genügend Phlegma verfügen, den Verkauf der Immobilie
oder ihre Umwandlung in Eigentumswohnungen abzuwarten. Er wird früh
genug merken, welche Späße der neuen Inhaberin einfallen, sich
aus den Klauen miterworbener Mieter zu befreien. Ratsam ist's daher, von
vornherein in der Lage zu sein, das Vorkaufsrecht auszuüben; eine
halbe Million Eigenkapital und man hat gute Chancen, daß die
Bank die Restsumme kreditiert. Es sei denn, die vier Wände werden
heimlich verhökert. Dann Gute Nacht! Die
Angst vor Exmittierung war's schon vor 157 Jahren nicht allein. Fontanes
etwa hatten einen Neubau "trockengewohnt"; den Kindern weitere
Gesundheitsrisiken zu ersparen dürfte des Dichters "großen
Gedanken" zusätzlich beflügelt haben. Heute darf man in
Kreuzberg wieder Keller als Wohnung vermieten: feucht, fußkalt,
schlecht belichtet und durchlüftet. Was weiland nicht nur auf Kellerhöhe
fehlte, waren Abgase, Feinstaub, Lärm und Scheinwerfer von
vor unsrer Schlafstube
15000 Autos am Tag. Weder gleißende Straßenlaternen noch aggressive
Leuchtreklamen bewirkten Ruhe- und in deren Folge Herz-Kreislauf-Störungen. Vor
20 Jahren, sieben Monaten und sechs Tagen zogen mein Liebster und
ich aus einem Hochparterre mit wildem Obstgarten an der Köpenicker
Grenze zu Treptow nach Kreuzberg
aber nicht in dieses. Im Juli 1998 suchte unser Hauswirt noch Dauermieter;
manche, klagte er, blieben ja keine fünf Jahre! Seit sein Haus als
Geldanlage an eine Münchner Stiftung ging, ziehen neue Nachbarn fort,
bevor wir ihren Namen Gesichter zuordnen können. Verständlich,
sie zahlen pro Quadratmeter dreimal soviel wie wir. Trotzdem stehen schon
mal 70 potentielle Nachmieter Schlange, bei denen auch bloß
kein Interesse am einst so gepflegten Baudenkmal von 1878 aufkommt. Egal,
ob die Dachkästen faulen, Regen eindringt, Stuckelemente auf den
Fußweg krachen. Wurde jemand erschlagen? Nicht? Dann fegt man die
Trümmer halt weg. Bis zum nächsten Mal. Im
Umfeld wichen alte Straßenbäume Autos, die Stoß an Stange
parken. Unsrem täglichen Bedarf laufen wir immer weiter hinterher;
der Bäcker an der Ecke hat selten Brot. Den Gästen all der Ferienwohnungen
wie dem Personal windiger Startups ringsum genügt zur Versorgung
mit belegtem Baguette ein Auf-Backhaus mit Coffee to go. Zwanzig
Jahre, mein Kreuzberg, sind eine lange Zeit. Nirgendwo habe ich länger
gelebt. In das erste Zuhause bin ich hineingeboren, Du wurdest, nach Zwischenstationen,
mein zweites: Dich habe ich mir ausgesucht und es keinen Moment bereut.
Viel habe ich in Dich investiert, Geld und gute Worte. Nun aber gehst
Du mir an die Substanz. Ich bin Deiner müde. Deine Unwägbarkeiten
kosten mich Nerven, es ist genug. Mit einem anderen Liebsten geht es zurück nach Treptow-Köpenick. Dort, in einem Garten mit Obst, Gemüse und Blumen, arbeitet an unsrem "Bau eines Hauses, in dem man nur selber wohnt", jenem "großen Gedanken", den der große Fontane nie verwirklicht hat, ein Architekt aus Kreuzberg. |